Übertritt nach der Grundschule:

von D. Schnittke, von 1988-2009 und ab 2018 Lehrer an der GS Rotes Tor (Ü-Klassen und 3./4. Jgst.)

Qual der Wahl

(Bearbeitung 2011: "Hauptschule" ist nun mit "Haupt-oder Mittelschule" gleichzusetzen.)

Nach dreieinhalb Schuljahren sind Eltern und Lehrer/innen in Bayern gezwungen, gemeinsam eine sehr wichtige Entscheidung zu treffen: Welchen (Schul-)Weg sollen die Kinder bzw. Schüler/innen zukünftig einschlagen? Die Wahl der künftigen Schule beeinflusst die nähere und weitere Zukunft der Kinder so sehr, dass sie sich nicht nach Elternträumen oder -ängsten richten sollte, auch nicht nach einer vermeintlich besseren Startposition im späteren Leben und schon gar nicht nach einem diffusen Unbehagen gegenüber irgend einer Schulform, sondern ausschließlich nach den Neigungen und Fähigkeiten des Kindes. Im folgenden soll versucht werden, diese Forderung zu erläutern sowie Entscheidungshilfen zu geben.

Äußere Differenzierung nach der Grundschule

Die Grundschule hat - kurz gesagt - die Aufgabe, alle Kinder nach ihren Anlagen möglichst gut zu fördern, d.h. sie dort abzuholen, wo sie stehen und dann in allen Bereichen möglichst weit voranzubringen. Nur in sehr wenigen Fällen wird während der Grundschulzeit von dieser sog. "inneren Differenzierung" abgewichen und werden Kinder in besonderen Einrichtungen (z.B. Förderschulen) unterrichtet. In Bayern endet die Grundschule nach der 4. Klasse, und damit steht die Entscheidung an, wie es weitergehen soll.

Diese Entscheidung ist an sich schon nicht ganz einfach: nach der Grundschule wird durch äußere Differenzierung in verschiedene Schulformen der weitere Weg bestimmt, und hierzu werden Anlagen und Leistungsvermögen der Kinder auf verschiedenen Gebieten zur Unterscheidung herangezogen (was gleichermaßen Chance und Fluch sein kann). Man soll also zu einem relativ frühen Zeitpunkt möglichst tragfähige Aussagen darüber machen, was ein Kind kann und können wird. Das ist nicht immer einfach.
Zusätzlich erschwert wird die Entscheidung seit Jahren dadurch, dass die Hauptschule (als eigentlich wichtigster "Abnehmer" der Grundschule) von vielen Eltern als Sackgasse bzw. Schulform minderer Qualität betrachtet wird.

Diese problematische (von der Schulpolitik mit verursachte und m.E. falsche) Einschätzung führt zu dem immer stärker spürbaren (und immer häufiger als Forderung geäußerten) Wunsch, die Kinder müssten "wenigstens" die Realschule besuchen, damit sie später alle Chancen (z.B. auf einen guten Verdienst) haben. Viele Eltern meinen, die Grundschule habe nur richtig zu funktionieren, damit dieser Wunsch Wirklichkeit wird; sie verkennen dabei, dass zum einen nicht jedes Kind die gleichen Anlagen hat und dass außerdem auch der Übertritt z.B. ins Gymnasium Chancen verbauen kann, nämlich die auf eine "passende" Ausbildung.

Hauptschule, Realschule und Gymnasium sind nämlich nicht als unterschiedlich hohe Startrampen auf dem Weg zu Glück oder (wenigstens) Reichtum konzipiert, sondern sie sind unterschiedliche Schulformen mit unterschiedlichen Ansprüchen, die auf die unterschiedlichen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bedürfnisse der Kinder hin ausgerichtet sind und versuchen sollen, Jugendliche sowohl allgemein zu bilden wie auf die Erfordernisse der für sie wohl am ehesten geeigneten Berufsbilder vorzubereiten.

Das Ziel sollte daher sein,
a) die Schulform zu wählen, die zu dem Kind im Moment des Wechsels am besten passt und die am ehesten in ein erfüllendes Berufsleben mündet, und
b) bei nicht ganz klarer Ausgangslage den Weg zu beschreiten, der die leichtesten Korrekturmöglichkeiten bietet.

Für jedes Kind die richtige Schule

Die Hauptschule versteht sich als "normale" Weiterführung der Grundschule, sie ist insgesamt eher auf praktisches Lernen ausgelegt und erschließt den Jugendlichen sehr früh einen Einblick in die Berufswelt. Die Ausbildung ist weit gefächert und bietet von allen Schulformen wohl die beste Möglichkeit, allgemeine und berufsspezifische Bildung zu kombinieren. Ein guter "Quali" nach der 9. Klasse kann direkt in den Beruf/die Lehre führen, es besteht aber auch die Möglichkeit, die 10. Klasse zu besuchen und die Mittlere Reife abzulegen (und danach Abitur bzw. Fachhochschulreife anzustreben etc.). Grundsätzlich gibt es bei entsprechenden Leistungen in den ersten Jahren auch beinahe jederzeit die Möglichkeit, auf andere weiterführende Schulen (Wirtschaftsschule, Realschule, Gymnasium) zu wechseln. Eventuelle Rückstände wegen unterschiedlicher Lehrpläne können dies zwar erschweren, werden aber häufig durch Übergangsklassen oder Zusatzangebote ausgeglichen.

Die Realschule endet nach der 10. Klasse mit der Mittleren Reife. Sie vermittelt neben Allgemeinbildung die Fähigkeiten, nach der Schule direkt in einen Beruf zu wechseln oder bis zum Fachabitur bzw zur Allgemeinen Hochschulreife weiter auf die Schule zu gehen. Die Schüler/innen können nach einigen Schuljahren und innerhalb gewisser Grenzen verschiedene Schwerpunkte setzen, die meist in den Bereichen Soziales oder Wirtschaft angesiedelt sind. Die Realschule vermittelt zwei Fremdsprachen und ist - bei aller Orientierung am Berufsleben - wohl deutlich "kopflastiger" als die Hauptschule.

Das Gymnasium endet nach der 12. Klasse mit der Allgemeinen Hochschulreife und berechtigt zum Studium an Hochschulen. Es befähigt nicht zum sofortigen Eintritt in einen Beruf, dazu ist es auch nicht gedacht. Je nach Art des Gymnasiums können sich bereits in den ersten beiden Schuljahren recht große Unterschiede zu den Lerninhalten der anderen Schulen ergeben, weshalb der Wechsel aufs Gymnasium nur bei klarer Eignung des Kindes erfolgen sollte.
An allen Gymnasien werden mindestens drei Fremdsprachen unterrichtet. Meist sind die Gymnasien von Anfang an auf bestimmte Schwerpunkte festgelegt bzw. es wird zu bestimmten Zeitpunkten die Wahl unterschiedlicher Schwerpunkte angeboten; diese sind sehr weit gefächert (alte Sprachen, neue Sprachen, Musik, Kunst, Mathematik, Naturwissenschaften, Sport, Wirtschaft, Recht u.v.m.), wodurch es möglich ist, früh und sicher (!) erkannte Begabungen besonders zu fördern.

Alle Schulformen vermitteln eine allgemeine Bildung (Deutsch, Mathe, Englisch, Sozialkunde, Naturwissenschaften etc), haben darüber hinaus aber unterschiedliche Ziele und damit Lerninhalte. Es ist ein Fehler anzunehmen, dass ein gescheiterter Gymnasiast in der Hauptschule leicht Fuß fasst, da er ja bis dort die "bessere" Ausbildung hatte. Die Unterschiede sind nicht gering. Sie werden erfahrungsgemäß in aller Regel auf dem Weg von der Hauptschule in eine "höhere" Schule leichter verkraftet als umgekehrt.

Wortgutachten als Entscheidungshilfe

Um eine verantwortliche Entscheidung zu treffen, reicht es nicht aus, "das Beste" für sein Kind zu wollen und deshalb einfach möglichst "hoch zu zielen", man sollte einerseits einen Überblick über die verschiedenen Schultypen und ihre Anforderungen haben und zweitens - noch wichtiger - das jeweilige Kind möglichst gut kennen und einschätzen können. Zeugnisnoten helfen da nur sehr bedingt, geben sie doch nur einen sehr verkürzten Einblick in die wahren Fähigkeiten eines Kindes (zudem sind - so ungeheuerlich das klingen mag - die Kriterien zur Notenvergabe nirgendwo wirklich festgelegt; auf meine Anfrage im Ministerium erklärte man mir 2003, darüber entscheide im Zweifel der jew. Rektor). Es wäre also völlig falsch zu glauben, allein aus dem Notendurchschnitt dreier Fächer könne man auf die Eignung eines Kindes für die jeweilige Schulform schließen (auch wenn die Zugangskriterien dies nahe legen). Mindestens ebenso wichtig sind Fragen nach den Interessen des Kindes, seiner Fähigkeit zu abstrahieren, seiner körperlichen und seelischen Belastbarkeit u.v.m.

Aus diesem Grund beinhaltet das Übertrittszeugnis ein Wortgutachten, in dem auf Stärken und Schwächen des Kindes differenzierter eingegangen wird.

Dieses Gutachten sollten Sie (ebenso wie die vorher sicher geführten Gespräche mit den Lehrer/innen) als Grundlage zur Beurteilung der Frage verstehen, ob Ihr Kind a) den Anforderungen der weiterführenden Schule gerecht werden kann und b) für den jeweiligen Schultyp auch geeignet ist. Künftige Probleme müssen beileibe nicht nur aus einer Über- oder Unterforderung entstehen, es kann schlicht passieren, dass Kind und Schulform nicht "zusammenpassen", egal wie gut die Noten waren.

Kriterien

Halten Sie Ihr Kind für "normal"? Kommt es in der Grundschule ganz anständig und ohne große Probleme mit? Dann führen Sie sich bitte vor Augen, dass der "normale" Weg für ein "normales" Kind der in die Hauptschule ist. Hier wird nämlich nahtlos an die Grundschule angeschlossen, der Übergang ist "sanft", da Ziele und Unterrichtsmethoden an die der Grundschule anknüpfen und (meist bis zum Ende der Schulzeit) sehr stark auf praktisches Tun, Verwertbarkeit des Wissens im Alltag und "Verstehen durch Begreifen" ausgerichtet sind.

Nur Kinder, die die Grundschule eindeutig als leicht empfinden (oder manchmal als schwer und sie trotzdem/deshalb lieben), die schon hier von Zeit zu Zeit zeigen, dass sie auch zu abstrakterem Lernen fähig sind und daran Freude haben (!) und die auch bei Schwierigkeiten oder geringerer Motivation "am Ball" bleiben, sollten nach meiner Ansicht zu diesem frühen Zeitpunkt auf eine "höhere" Schule wechseln (denn es ist auch später noch möglich, wie bei Alternativen gezeigt wird).

Es mag hilfreich sein, sich die folgenden Fragen einmal kritisch zu stellen:

"Wir wollen es aber auf jeden Fall versuchen..."

Für sehr, sehr viele Kinder kommt die Entscheidung zur weiteren Laufbahn nach der 4. Klasse m.E. viel zu früh (für einige kommt sie aber auch zum richtigen Zeitpunkt).

Bei Unsicherheit, ob das Kind für Gymnasium oder Realschule wirklich geeignet ist, birgt die Methode "Versuch und Irrtum" die Gefahr, dass das Kind

Erschwerend kommt hinzu, dass all diese Probleme in einer Zeit auftreten, die sowieso zu den schwierigsten Phasen in einem Menschenleben gehört (Pubertät).

Manche Eltern meinen dann, die weiterführende Schule dürfe die Kinder nicht überfordern, sie müsse die Ansprüche zurückschrauben, um den Leistungsdruck zu vermindern. Man könnte aber auch die richtige Schulform wählen und damit Überforderung und zu großen Druck von vornherein vermeiden.

Auch die Angst vor schwierigeren sozialen Verhältnissen in der Hauptschule ist ein häufiges Argument für die Realschule, selbst bei Eltern, die wissen, dass ihr Kind eigentlich auf der Hauptschule am besten aufgehoben wäre. Das Problem besteht - wenn auch sicher nicht überall, verstärkt sich aber leider auch in dem Maße, in dem Grundschüler massenweise - und oft ohne Befähigung - an die "höhere" Schule entsendet werden.



Alternativen

Man sollte bei Unsicherheit, ob ein Kind auf Gymnasium oder Realschule gut aufgehoben ist, die Möglichkeit in Betracht ziehen

Die Vorteile: Kein Stress in der 4. Klasse; Motivation durch bessere Leistung (relativ zu den übrigen Schülern, da die vorher "Besten" nicht mehr in der Klasse sind); bessere Einschätzung, wie das Kind mit der Fremdsprache und dem Fachunterricht klarkommt; im Vergleich zum Gymnasium wesentlich bessere Chancen, in einen Beruf zu wechseln bzw. Berufsbilder kennenzulernen.
Zudem hat Ihr Kind in der Hauptschule derzeit wesentlich bessere Aussichten auf kleine Klassen und damit auf individuelle Betreuung (das gilt in Augsburg ganz besonders für die Buben).



Zusammenfassung

Zur Beantwortung der Frage, welchen Schultyp Ihr Kind nach der 4. Klasse besuchen soll, müssen neben den Noten unbedingt Kriterien wie Interessen, Arbeitsverhalten, Belastbarkeit, Auffassungsvermögen u.v.m. herangezogen werden. In Elterngesprächen, in den Zeugnissen der einzelnen Jahrgangsstufen sowie im Wortgutachten des Übertrittszeugnisses werden hierzu ausreichend konkrete Aussagen gemacht.

Das bayerische Schulsystem verlangt zwar einerseits eine (für viele zu) frühe Entscheidung, ist andererseits aber "nach oben" äußerst durchlässig. Die in vielen anderen Ländern anzutreffende (und auch hier zu Lande oft geforderte) spätere Differenzierung ist also für alle "unklaren Fälle" eigentlich ganz einfach möglich, indem das Kind den "normalen" Weg in die Hauptschule nimmt.

Bei Unsicherheit sollte man sich darüber im Klaren sein, dass eine "falsche" Entscheidung für die Hauptschule wesentlich einfacher korrigierbar ist als eine falsche Entscheidung für Gymnasium oder Realschule.
Der Weg in die "höhere" Schule bzw zu einem höheren Schulabschluss steht bei entsprechenden Leistungen fast jederzeit offen und enthüllt bei den betreffenden Kindern erfahrungsgemäß wachsende Motivation und große Zielstrebigkeit.
Der Weg zurück dagegen kann ein langer und schmerzhafter sein, auf dem bei an sich leistungsbereiten Kindern Selbstbewusstsein und Lernfreude durch zu hohen Druck und Überforderung Schritt für Schritt kaputt gemacht werden können.



D. Schnittke