Schwäbische Volksmärchen 1



Das Männlein mit dem Wunderspiegel

Das Wunderschiff

Der Drachentöter


Am Ende der drei Märchen könnt Ihr testen, wie gut Ihr gelesen habt und ob Ihr alles verstanden habt.

Wenn Ihr mit der Maus auf eines der Wörtern in farbigen Buchstaben zeigt, erscheint oben links ein Fenster mit einer Erklärung.



Das Männlein mit dem Wunderspiegel

Vor vielen, vielen Jahren war einmal im Gebirge ein Mann unterwegs. Da fand er zufällig, wie man ja manchmal etwas findet, einen kleinen Spiegel. Er hob ihn auf und blickte hinein. Aber, was Wunder! er sah drin nicht sich selbst, sondern einen steilen, felsigen Berghang, der voll goldener und silberner Zapfen hing. Die gleißten und funkelten in wunderbarem Glanze. Hoch oben an der Felswand aber krabbelte ein kleines Männlein herum, das emsig die goldenen Zapfen abbrach und in ein Säcklein steckte.

Der Mann konnte sich an alldem kaum satt sehen. Es dauerte aber gar nicht lange, da merkte das Männlein, dass jemand es durch sein verlorengegangenes Spiegelein beobachtete. Da wurde es ganz aufgeregt und fing an zu zappeln und ängstlich zu jammern und bat den Mann, doch den Spiegel wegzuwerfen. Es sei sonst verloren, könne sich nicht mehr an der Felswand halten und müsse herabstürzen und zu Tode fallen. Gerne wolle es ihm dafür von seinen Schätzen geben. Da hatte der Mann mit dem armen Wichtlein Mitleid und warf den Spiegel weg. Sogleich verschwand die Felswand und alle Pracht, die daran gefunkelt, und das Männlein stand vor ihm. Als der Mann fragte, woher es denn sei, sagte es: "Aus Venedig!", gab ihm zum Lohn einen großen Goldzapfen und - war verschwunden.

Voller Freude wickelte der Mann den Zapfen in sein Sacktuch und machte sich auf den Heimweg. Unterwegs schmiedete er mancherlei Pläne: wie er seine Schulden bezahlen und Felder und Vieh kaufen könne; freute sich, dass ihm nun aus aller Not geholfen, und wie reich er mit einemmal geworden sei. In der halben Zeit war er zu Hause, so schnell lief er. Schon unter der Stubentür knüpfte er sein Taschentuch auf, um Weib und Kind seinen Schatz zu zeigen. Aber, O weh! - der Zapfen glänzte kein bisschen mehr, sondern war ganz schwarz und unansehnlich geworden. Da war der Mann tagelang traurig. Und weil er mit dem schwarzen Klumpen nichts anzufangen wusste, entschloss er sich, nach Venedig zu gehen, das Männlein aufzusuchen und es zu fragen, wie er das trügerische Ding behandeln müsse, damit es wieder seinen alten Glanz bekomme. Er wickelte den Zapfen ins Taschentuch und begab sich auf die Reise.

Nach langer Wanderung kam er endlich in Venedig an. Wie er so durch die Straßen ging und nach dem Männlein suchte, stand es plötzlich neben ihm. Es grüßte ihn überaus freundlich und fragte erstaunt, wie er denn hierher komme. Da klagte ihm der Mann seine Not, erzählte, wie es ihm mit dem goldenen Zapfen gegangen sei und knüpfte sein Taschentuch auf. Da lächelte das Männlein, strich mit der flachen Hand darüber hin und - siehe da! der Zapfen war wieder eitel Gold und funkelte wie zuvor. Überglücklich bedankte sich der Mann und wollte gleich wieder die Heimreise antreten. Aber das Männlein ließ es nicht zu, sondern bat ihn, mit in sein Haus zu kommen und einige Tage sein Gast zu sein.

Es führte ihn in einen großen mächtigen Palast; bewirtete ihn mit köstlichen Speisen und Getränken und zeigte ihm alle seine Reichtümer. Da konnte der einfache Mann ob all der Pracht und Schätze nicht genug staunen und rief ein Mal übers andere "Ach, wenn nur auch meine Frau da wäre und all die Schönheit sehen könnte!" Das Männlein fragte ihn, ob er gerne wissen und sehen möchte, wie es seiner Frau zu Hause gehe und was sie gerade treibe. "Ei, freilich möchte ich das gerne sehen!" sagte er. Da holte das Männlein den Wunderspiegel herbei und ließ ihn hineinsehen. Und da sah der Mann wahrhaftig ganz klar und deutlich sein Haus und die Stube und drin sein Weib, wie es bei der Wiege saß und dem Kind den Brei gab. Voller Freude nahm er von dem guten Männlein Abschied, zog mit seinem blanken Goldzapfen wieder heimwärts und lebte fortan mit Weib und Kind in Glück und Reichtum.



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Das Wunderschiff

Es war einmal ein reicher König, der hatte die seltsamsten Wünsche. Eines Morgens befahl er: "Man baue mir ein Schiff, mit dem ich zu Wasser und zu Lande fahren kann!" Noch am selben Tage ließ sein Kanzler im ganzen Reich durch Herolde verkünden: "Wer es vermag, dem König ein Schiff zu bauen, mit dem er zu Wasser und zu Lande fahren kann, der bekommt seine Tochter zur Frau und soll nach ihm König werden!"

Diese Kunde hörte auch ein reicher Sägmüller, der drei Söhne hatte. Er rief sie zu sich und sagte: "Ich will gern alles aufwenden, was ich habe. Versucht's, ob einer von euch ein solches Schiff zuwege bringt!" Die Söhne waren gleich bereit dazu; als sie sich aber darum stritten, wer es mit dem Bau zuerst versuchen dürfe, bestimmte der Vater, dass der älteste den Anfang machen solle.

Der zog auch gleich mit den Knechten hinaus in den Wald, um das nötige Holz zum Schiffsbau zu fällen. Sie hatten schon eine stattliche Anzahl Tannen gehauen, da kam ein alter Mann den Waldweg daher und bat um ein Stück Brot. Der junge Sägmüller aber sagte: "Ich habe nur Brot für mich und meine Leute und kann dir nichts abgeben!" "Was willst du denn da mit deinen Leuten machen?" fragte der Alte. - "Ein Schiff mit dem man zu Wasser und zu Lande fahren kann!" schnarrte ihn der Junge an. - "Das werdet ihr wohl bleibenlassen !" entgegnete der Mann und ging weiter. Und wie er gesagt hatte, so geschah es auch. Sie arbeiteten lange und konnten das Schiff doch nicht zustande bringen.

Als der älteste Sohn unverrichteter Dinge nach Hause kam, zog der zweite aus. Die Sonne sank, und er wollte mit den Knechten gerade Feierabend machen, als wieder der alte Mann dahergestockt kam und um ein Stück Brot bat. "Für fremde Leute haben wir kein Brot!" bekam er zur Antwort. Darauf fragte der Mann: "Was wollt ihr denn hier machen?" - "Ein Schiff das zu Wasser und zu Lande fahren kann!" - "Das werdet ihr wohl bleibenlassen!" sagte der Alte und ging weiter. Und er behielt recht. Auch der zweite Sohn musste nach vergeblicher Mühe wieder umkehren.

Jetzt kam die Reihe an Hans, den jüngsten. Er rief die Arbeiter zusammen, zog in den Wald hinaus und legte hurtig Hand ans Werk. Gegen Abend kam auch zu ihm der alte Mann und bat um ein Stückchen Brot. - "Gerne", sagte Hans. "Setzt Euch nur her zu mir." Und er reichte ihm Brot und Käse und füllte ihm einen Becher mit Wein. Der Alte bedankte sich und fragte nach einer Weile : "Was wollt ihr denn da machen?" - "Ein Schiff, mit dem man zu Wasser und zu Lande fahren kann", antwortete Hans. - "So, so", sagte der Mann. - "Meine zwei Brüder haben es schon vor mir versucht, aber es ist ihnen nicht gelungen", erzählte Hans. Der Alte nickte: "Ich weiß es. Auch du würdest es nicht zuwege bringen. Weil du aber der beste von euch drei Brüdern bist, sollst du das Glück haben, die schöne Königstochter zu freien. Komm zu dieser Stunde über drei Tage hierher an diesen Platz, so will ich dir das Schiff mitbringen. Pünktlich zur ausgemachten Stunde erschien der Alte und übergab dem Hans das Wunderschiff, das zu Wasser und zu Lande fahren konnte. Wie staunte da der junge Bursche und kannte sich fast nicht mehr vor Freude. "Nun, steig ein!" sagte der Mann. "Und fahr mit Glück!" - Ehe Hans sich aber umsah, seinem Helfer zu danken, war der Fremde verschwunden. Da stieg er ins Schiff und machte sich ohne Aufenthalt auf den Weg in die Hauptstadt und zum Palaste des Königs.

Wie er so mit seinem Schiff über Land und Wasser dahinsegelte, sah er vor einem Wald einen Jäger stehen. Der hatte das Gewehr angelegt und zielte ins Blaue hinein. Da hielt Hans sein Schiff an und fragte: "Wonach zielst du denn?" - Der Jäger sagte: "Ich will den Spatzen schießen, der in dem Dorf hinterm Wald auf der Kirchturmspitze sitzt." - Hans meinte: "Das ist doch nicht möglich!" - Der Schütze aber behauptete: "Mit diesem Gewehr kann ich auf vierhundert Stunden weit jeden Vogel treffen!" - "Willst du nicht mitfahren?" fragte Hans. - "Das möchte ich schon gerne; aber ich habe kein Geld." - "Das tut nichts!" sagte Hans. Da setzte sich der Jäger zu ihm in das Schiff und sie fuhren miteinander weiter.

Sie waren noch nicht lange unterwegs, da trafen sie einen Mann, der hatte auf der rechten Seite ein ungeheuer langes Ohr. Es reichte bis auf den Boden. Hans hielt sein Schiff an und fragte den Mann: "Was fängst du denn mit deinem langen Ohr an?" - "Damit kann ich auf vierhundert Stunden weit alles hören, was gesprochen wird", entgegnete er. - "Ei, so horch einmal, was man im Königsschloss spricht!" sagte Hans. Da horchte der Langohr ein Weilchen hin und sagte: "Man spricht dort gerade von dem Wunsch des Königs, der ein Schiff haben will, das zu Wasser und zu Lande fahren kann. Aber die Minister sagen, es sei nicht möglich, ein solches zu bauen." - "Willst du nicht mitfahren?" fragte Hans. "Ja, das möchte ich schon gerne, aber ich habe kein Geld." - "Das tut nichts!" sagte Hans, ließ ihn einsteigen und fuhr weiter.

Bald begegneten sie wieder einem Mann; der hatte ganz gewaltig große Stiefel an den Füßen. Hans hielt sein Schiff an und fragte ihn: "Was machst du denn mit den großen Stiefeln?" - Der Mann antwortete: "In diesen Stiefeln komme ich schneller voran als der Wind!" - "Ei, willst du nicht mitfahren?" fragte Hans. - "Dazu hätte ich schon Lust, aber ich habe kein Geld, um die Fahrt zu bezahlen." - "Das tut nichts!" sagte Hans, und so fuhr der Schnelläufer auch mit.

Über eine Weile sahen sie noch einen vierten Mann am Wege stehen. Dem ragte ein großer Holzzapfen aus seinem Hosenboden. Darüber wunderte sich Hans sehr und hielt darum sein Schiff an. Er fragte den Mann: "Warum hast du dahinten einen Zapfen stecken?" - "Das hat seinen guten Grund", antwortete der Mann; "denn wenn ich den Zapfen herausziehen würde, könnte ich das ganze Königreich voll machen!" - "Ei!" sagte Hans, "willst du nicht mitfahren?" - "Ich möchte schon", antwortete der Mann, "aber ich habe kein Geld und ich brauche auch sehr viel zu essen." - "Das tut nichts!" sagte Hans. "Fahr nur mit!" So stieg auch der Zapfenmann ins Schiff und fuhr mit an den Königshof.

Als Hans vor dem Schloss ankam, übergab er das Schiff mit den vier Männern der Obhut der Wache und ging geradeswegs zum König. Er verbeugte sich höflich und sprach: "Herr König, drunten habe ich ein Schiff, das zu Wasser und zu Lande fahren kann!" Da fragte der König: "Hast du es auch selbst gemacht?" - "Ja!" sagte Hans. "So säge einmal ein Stück aus dem Schiff heraus und setze es dann wieder ein!" gebot der König. Da sagte Hans: "Ich habe ein ganzes und heiles Schiff gebaut; warum soll ich`s mutwillig zerstören und hernach wieder flicken? Das tu ich nicht!" Als der König den Hans auf diese Art nicht loswerden konnte, ließ er seinen Kanzler kommen und beriet mit ihm, was hier zu machen sei. Denn er meinte, diesem dummen Burschen könne er doch nicht seine Tochter zur Frau geben.

Der schlug ihm vor: "Stellt ihm eine unlösbare Aufgabe; sagt, dass Ihr ihm Tochter und Reich erst abtreten könnt, wenn er auch diesen Auftrag erfüllt habe." - "Und welches, meinst du, wäre diese unlösbare Aufgabe?" fragte der König. - "Schickt ihn nach dem Brunnen, der dreihundertfünfzig Stunden von hier liegt, er soll daraus binnen drei Stunden einen Krug Wasser holen. Ich denke, das wird der Hans wohl bleibenlassen!" Dieser Rat gefiel dem König. Er ließ Hans zu sich rufen und sagte: "Höre einmal, du musst mir erst noch einen Krug Wasser aus dem Brunnen an der Grenze meines Reiches holen. Bist du in drei Stunden wieder hier, so sollst du meine Tochter bekommen und König werden." - "Soll geschehen!" sagte Hans und eilte zu seinem Schiff und seinen Leuten.

"Zieh schnell deine großen Stiefel an!" rief er dem Schnelläufer zu und fuhr ihn übers Wasser. Der Schnellläufer flog wie der Wind zum Brunnen, füllte daraus den Krug und wollte sich gleich wieder auf den Rückweg machen. Dann dachte er aber: "Du hast ja noch Zeit und kannst dich erst ein wenig ausruhen", legte sich unter einen Baum und schlief ein. Zwei Stunden waren schon vergangen, und Hans stand auf seinem Schiff und wartete und wartete; doch der Läufer kam nicht. Da sagte Hans zu dem Langohr: "Horch doch einmal hin, wo der Läufer steckt!" Der Langohr legte sein Ohr an die Erde und lauschte eine Weile. "Der ist bei dem Brunnen eingeschlafen, ich höre ihn dort schnarchen!" sagte er. Da nahm der Scharfschütze seine Büchse, lud einen Kieselstein hinein und schoss ihn dem Schläfer so dicht am Kopf vorbei, dass es nur so pfiff. Davon erwachte der Schnelläufer, lief weiter und kam gerade noch zur rechten Zeit mit seinem Krug Wasser an.

Hans brachte ihn dem König und verlangte nun seine Tochter und das Königreich. Nun war der König wieder in Not, denn er hatte nicht gedacht, dass Hans das Wasser aus dem fernen Brunnen so schnell herbeischaffen könnte. Weil er aber gar keinen Ausweg mehr wusste, fragte er endlich den Hans: "Ist es dir nicht einerlei, wenn ich dir anstatt der Prinzessin und meinem Reich Gold gebe?" Hans sagte: "Mir kann es gleich sein. Aber ich will so viel Gold, als mein Schiff tragen kann." Der König sagte ihm dies zu, ließ aber sogleich wieder seinen Kanzler rufen und sprach: "Sobald der Hans weggefahren ist, soll ihm ein halbes Regiment roter Husaren nachreiten und ihm das Gold wieder abnehmen!"

Nun wurde von den Dienern des Königs eine Tonne Gold nach der andern auf das Schiff gebracht. Als es voll beladen war, trat Hans mit seinen Gehilfen die Rückreise an. Während sie zum Stadttor hinausfuhren, sagte Hans zum Langohr: "Horche einmal, was sie jetzt im Schloss sprechen!" Da horchte er auf und sagte: "Der König schickt soeben ein halbes Re- giment rote Husaren aus, die sollen dir das Gold wieder abnehmen und dem König zurückbringen. " Es dauerte auch nicht lange, da kamen die Rotjacken dahergesprengt. Als sie nahe genug waren, sagte Hans zum Zapfenmann: "Was meinst du, nun könntest du einmal den Husaren deine hintere Seite zeigen und den Zapfen herausziehen!" Der war mit Freuden bereit dazu. Er zog den Zapfen heraus - und da ging`s wie aus einer Feuerspritze auf die roten Husaren los, dass sie gar nicht wussten, was ihnen geschah. Als sie aber alle so übel zugerichtet waren, dass sie`s nicht mehr länger aushalten konnten, wandten sie ihre Pferde um und ritten so schnell sie konnten aufs Schloss zurück.

Als der König sie zurückkommen sah und hörte, dass sie dem Hans das Gold nicht abgenommen hatten, wurde er sehr zornig und sprach: "Das habe ich schon im Voraus gewusst, dass die gelben Husaren nichts ausrichten würden! Deshalb habe ich ausdrücklich die roten dazu bestimmt! Aber so geht`s, wenn meine Befehle nicht pünktlich ausgeführt werden!"

Unterdessen segelte Hans mit seinen Gefährten ungestört der Heimat zu und gab jedem seinen Teil von dem Golde, so dass sie alle mehr bekamen, als sie jemals in ihrem Leben verbrauchen konnten.



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Der Drachentöter

Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne. Als sie erwachsen waren, ließ er ihnen kostbare Gewänder anfertigen, gab jedem einen schön verzierten Gürteldolch und ein gutes Schwert in die Hand und sprach: "Nun reist hinaus in die Welt, seht euch überall wohl um und versucht euer Glück!" Dazu waren die drei Brüder gleich bereit, nahmen Abschied von ihrem alten Vater und zogen zum Tor hinaus. Als sie ein gutes Stück gewandert waren, kamen sie zu einer großen Tanne; da beschlossen sie, sich zu trennen. "Wir wollen unsere Dolche in diese Tanne stecken", sagte der älteste. "Kommt einer von uns zu irgendeiner Zeit wieder einmal hier vorbei, so mag er an ihnen erkennen, ob wir noch am Leben oder ob wir gestorben sind, und dies wird das Zeichen sein: wessen Dolch einen Rostfleck zeigt, der ist tot und wird die Heimat seiner Väter nie mehr wiedersehen." - Sie stießen also die blanken Klingen tief in den Baum; dann ging der eine zur Rechten, der andere zur Linken, der jüngste aber zog geradeaus und kam bald in einen großen, finsteren Wald.

Wie er nun so allein zwischen den dunklen Tannen dahinging, kam ihm mit einem Mal ein Bär entgegen. Ohne langes Besinnen griff er nach seinem Schwert und wollte ihm auf den Pelz rücken. Der Bär aber rief: "Töte mich nicht, es wird dein Glück sein!" trottete freundlich und zutraulich heran und begleitete den Königssohn durch den Wald. Als er wieder eine Strecke gewandert war, kam plötzlich ein großer, wilder Wolf dahergesprungen. "Im nächsten Augenblick schon schwang der Prinz sein Schwert, stellte sich ihm in den Weg und wollte ihn erschlagen. Der Wolf aber rief: "Töte mich nicht, es wird dein Glück sein!" - Da ließ er auch ihn am Leben, und nun zog der Wolf mit dem Bären hinter ihm her. Es dauerte nicht lange, da stand, wie aus der Erde gewachsen, ein mächtiger Löwe vor ihm und fletschte die Zähne. Dem Königssohn fuhr geschwind der Schreck in die Glieder; dann aber zog er blitzschnell sein Schwert, um es ihm in den Rachen zu stoßen. Weil aber der Löwe sagte: "Töte mich nicht, es wird dein Glück sein!", schenkte er auch ihm das Leben. Nun zog auch der Löwe mit dem Wolf und dem Bären hinter ihm her, und alle drei Tiere wichen nicht mehr von ihm.

Lange Zeit wanderte der Prinz mit seinen Begleitern durch den Wald, ohne einem Menschen zu begegnen. Endlich sah er in der Ferne eine Stadt. Da schritt er munter voran und zog bald darauf mit seinen Tieren durch das Tor ein. Doch seltsam: Alle Häuser waren mit schwarzem Flor behangen, und die Menschen gingen stumm und traurig durch die Straßen. Da fragte der Prinz, was denn der Stadt widerfahren sei. "Ach !" erzählten ihm da die Leute, "auf dem Berg dort, wo die Kapelle steht, haust ein siebenköpfiger Drache. Dem muss man jeden Tag ein unschuldiges Mädchen zum Fressen bringen sonst ist vor ihm niemand seines Lebens sicher. Nun aber soll ihm morgen die einzige Tochter des Königs ausgeliefert werden, und darum ist die Stadt in so tiefer Trauer." - "Das verstehe ich wohl", meinte der Prinz, "aber - ist denn gar keine Rettung möglich?" -"Ja, das fragen wir auch, lieber Herr", sagten sie. "Der König hat wohl schon lange im ganzen Lande bekanntmachen lassen, dass er dem Drachentöter die schöne Prinzessin zur Frau geben wolle; doch bis heute hat sich keiner gefunden, der den Kampf mit dem Ungeheuer wagen will." - Der Prinz hörte sich alles genau an und dachte: "Wenn du den Drachen erlegen und die schöne Königstochter gewinnen könntest! Vielleicht würden die drei Tiere dir helfen?" Und er nahm sich vor, den Kampf gegen den Drachen zu versuchen.

Am anderen Morgen, als die Sonne aufging, gürtete er sich sein Schwert um und stieg auf den Drachenberg, von seinen treuen Tieren begleitet. Als er zu der Kapelle kam, ging die Prinzessin gerade hinein, um zu beten. Sie war so jung und schön, dass er wie gebannt stehenblieb und ihr nachschaute. Da wurde er plötzlich durch ein fürchterliches Brüllen und Fauchen aufgeschreckt, und aus der Felsschlucht hervor stürzte der siebenköpfige Drache ungestüm auf ihn ein. Der Bär, der Wolf und der Löwe warfen sich wütend auf das Untier und jeder riss und biss ihm zwei Köpfe ab. Der siebente Kopf aber, der schrecklichste und gefährlichste von allen, fiel unter dem scharfen, Schwert des Prinzen in den Sand. Lang ausgestreckt lag der tote Drache in seinem Blute. Da trat die Prinzessin aus der Kapelle, ihrem Retter zu danken. Sie nahm die goldene Kette, die sie bisher selber getragen, zerteilte sie und legte jedem der Tiere ein Stück davon um den Hals. Zu dem Prinzen aber sagte sie: "Ich danke dir von Herzen, du tapferer Mann! Du hast mich vom Tode errettet, und dafür will ich dir für mein ganzes Leben als deine liebe und treue Frau gehören! Nun aber komm mit zu meinem Vater. "Es kann noch nicht sein, liebe Prinzessin", sagte er; "ich muss mich zuerst noch eine Weile in der Welt umsehen. Heute übers Jahr aber komme ich wieder und dann wollen wir Hochzeit halten!" Darauf schnitt er aus den sieben Drachenköpfen die Zungen heraus, wickelte sie in ein seidenes Tuch und steckte sie in die Tasche. Dann nahm er Abschied von seiner Braut und zog mit seinen getreuen Tieren auf gut Glück in die weite Welt hinaus.

Als der Prinz ihren Blicken in der Ferne entschwunden war, stieg die Prinzessin in die Kutsche, die am Fuße des Berges wartete, um sich nach Hause fahren zu lassen. Der Kutscher fuhr aber erst ab, nachdem er die sieben Drachenköpfe zu sich auf den Wagen geladen hatte. Und wie sie unterwegs durch einen dunkeln Wald kamen, hielt er plötzlich die Pferde an und sagte zu der Prinzessin: "So, nun sind wir allein und keiner ist da, der dir helfen könnte! Sage zum König, ich hätte den Drachen getötet! Versprich es mir, oder du musst auf der Stelle sterben!" Was konnte da die Prinzessin anderes tun, als zustimmen, wenn ihr das Leben lieb war? Als sie im Schloss ankamen, wies der Kutscher dem König die sieben Drachenköpfe vor, verlangte die Prinzessin zur Frau und wollte, dass die Hochzeit gleich am anderen Tage stattfinden sollte. Der König, der sein Wort halten wollte, war damit einig; die Prinzessin aber brachte es unter allerlei Vorwänden fertig, dass die Hochzeit immer wieder aufgeschoben wurde. Ein ganzes Jahr lang trieb sie es so; dann aber musste sie dem Drängen des Kutschers doch nachgeben. Sie tat es auch scheinbar willig, weil sie hoffte, dass der rechte Bräutigam sich nun bald einfinden werde, so wie er es ihr versprochen hatte.

Und richtig, als das Jahr bald um war, hatte der Prinz sich genug in der Welt umgesehen und die Heimreise angetreten. Als gerade noch ein einziger Tag an dem Jahr fehlte, kam er in der Stadt an und war erstaunt darüber, wie lustig und lebendig es überall zuging. Er kehrte in einem Wirtshaus ein, fragte den Wirt, ob er hier übernachten könne und fügte so beiläufig hinzu: "Was geht denn hier vor? Vor einem Jahr war die Stadt mit Trauerflor behangen und die Leute gingen stumm und traurig umher; heute dagegen sehe ich überall fröhliche Gesichter und die Stadt ist wie zu einem Fest geschmückt!" -"lhr habt's erraten", antwortete der Wirt und erzählte ihm, dass morgen die Königstochter Hochzeit halte mit dem Kutscher, der sie vor einem Jahr aus den Klauen des Drachen errettet habe. "Soso", sagte der Prinz, trank sein Glas leer und begab sich in seine Schlafkammer hinauf.

Am anderen Tag, während droben im Schloss das Hochzeitsmahl im Gange war, saß der Prinz, als Jäger gekleidet, mit dem Wirt in der Schankstube. Sie sprachen von der schönen Prinzessin und dem Drachentöter und dem prachtvollen Fest, und dabei sagte der Prinz: "Herr Wirt, holt mir doch auch einen Krug von dem Wein, den die Braut im Schlosse trinkt!" - "Das kann ich nicht, Herr!" antwortete der Wirt. "Dann muss ich halt meinen Wolf hinschicken!" meinte der Prinz; rief den Wolf zu sich und sagte: "Geh zu der Prinzessin ins Schloss und sage, dein Herr lasse um einen Krug von dem Wein bitten, den sie selbst trinke!" Es dauerte nicht lange, und der Wolf kam mit dem Krug angesprungen. Da konnte der Wirt sich nicht genug wundern", saß nur da und sah den Fremden an und schüttelte den Kopf. "So, jetzt will ich auch von dem Braten haben, den die Braut isst!" sprach der Prinz und schickte den Bären aufs Schloss, und der brachte wahrhaftig nach einer Weile ein Stück vom allerbesten Braten. "Nun fehlt bloß noch ein Stück von dem Brot, das die Prinzessin isst!" sagte der Prinz, und schickte den Löwen hin. Der kam nach kurzer Zeit mit einem großen Stück Brot im Maul angetrottet.

Die Prinzessin aber, die an der Hochzeitstafel saß, hatte die Tiere erkannt und wusste wohl, wer ihr Herr war. Darum gab sie ihnen auch alles, was sie forderten, von Herzen gerne. Der König hatte die sonderbaren Besucher mit Staunen beobachtet, nahm endlich seine Tochter beiseite und sprach: "Nun sage mir doch einmal, meine liebe Tochter: Was hast du eigentlich mit diesen wilden Tieren im Sinn?" Da erzählte die Prinzessin ihrem Vater alles, so wie es sich zugetragen hatte, und gestand ihm zuletzt, dass der wahre Drachentöter nun da sei und dass sie den und keinen anderen heiraten werde. Der König schickte sogleich einen Boten in das Wirtshaus und ließ den Herrn, dem die drei wilden Tiere gehörten, zur Tafel laden. Als die Hochzeitsgäste nun alle genug gegessen und getrunken hatten und noch eine Weile so recht vergnügt beisammen saßen, sagte der König: "Wir wollen uns zur Unterhaltung ein wenig erzählen. Und wer wird mehr erzählen können als der Drachentöter und unser lieber Gast, der Jäger, der heute erst von einer weiten Reise zurückkehrte? Beginne also, Freund Drachentöter!" Da ließ der falsche Drachentöter die sieben Drachenköpfe auf den Tisch legen und berichtete mit vielen aufgeblähten Worten, wie er sie damals im Kampf dem Untier abgeschlagen habe. Und alle, die von dem bösen Betrug nichts wussten und den Kutscher für den Drachentöter hielten, bewunderten ihn und spendeten ihm Lob über Lob. Der König aber verzog keine Miene und sagte nur: "Nun denn, Herr Jäger, erzählt Ihr einmal von Euren Abenteuern!"

Der erhob sich, verbeugte sich höflich und gestand zum ersten, dass er kein Jäger, sondern ein Prinz sei. Dann schilderte er getreulich, auf welch eigentümliche Weise er zu den treuen Tieren gekommen sei und wie sie geholfen hätten, einen siebenköpfigen Drachen zu überwinden und eine Königstochter vom sicheren Tode zu erretten. "Und welch ein Zufall", sagte er, "gerade heute vor einem Jahr und nahe bei dieser Stadt hat sich all das zugetragen. Auch die Drachenköpfe hier kommen mir so bekannt vor, als ob ich sie schon einmal gesehen hätte. Nur, will mir scheinen, haben sie keine Zunge im Maul, was doch sonst gewiss bei allen Tieren der Fall ist." Da erhob sich der König und rief: "Diener! Öffnet die Drachenmäuler!" Und richtig, - in keinem von allen sieben war eine Zunge zu entdecken. "Wo sind die Zungen, Kutscher?!" stellte der König den falschen Mann zur Rede. "Da müsst Ihr nicht den da, sondern mich fragen, Herr König", entgegnete der Prinz. "Hier sind sie!" - und dabei wickelte er die sieben Zungen aus dem seidenen Tuch. Und siehe, sie passten genau auf die abgeschnittenen Enden in den Rachen der Drachenköpfe. "Und nun, edle Prinzessin", wandte sich der Prinz an die Königstochter, "kennt Ihr vielleicht die goldene Kette am Hals meiner Tiere?" - "O gewiss!" sagte sie, "die kenne ich gut! Ich selbst habe sie ja deinen Tieren umgehängt, weil sie dir so treu und tapfer im Kampf gegen den Drachen beigestanden haben."

Nun wusste der König gewiss, dass der Prinz der wahre Drachentöter, der Kutscher aber ein arglistiger Betrüger war. In der gleichen Stunde noch wurde der Falsche dem Henker übergeben. Der Prinz und die Prinzessin aber hielten Hochzeit und lebten nach des alten Königs Tod noch lange Jahre in Glück und Freude als König und Königin.

Was aus den beiden Brüdern des Königs geworden ist? Niemand weiß, ob sie heimgekehrt sind oder heute noch in der Welt umherwandern. Wenn ich aber an die große Tanne komme, will ich doch nachsehen, ob sie noch am Leben sind, oder ob die blanken Klingen Rostflecke bekommen haben.


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Idee: D.Schnittke unter Verwendung von Scripts von www.alles-clery.de und J.C. Hanke sowie Texten von www.gutenberg.de, die rechtschriftlich angepasst wurden.